Stefan Marty spielt mit einem kleinen weissen Würfel. Vor ihm liegt ein Modell von Regensdorf. Der Würfel steht für eine Turnhalle, Marty verschiebt das Gebäude in der Gipsgemeinde, sucht einen Ort dafür. Das Modell befindet sich im Gemeindehaus und zeigt die Zukunft. Der Mann mit dem Würfel ist der Gemeindepräsident, knapp sechzig, parteilos. Im Modell ist Zwhatt bereits fertiggebaut, mittendrin erstreckt sich die Promenade. Nördlich und südlich reihen sich siebzehn Baufelder, im Modell steht alles schon. Zufrieden schaut Marty auf die Welt von morgen, ein gemütlicher Gott in Zivil.  

Er blickt auf eine halbe Welt. Im Modell fehlt der alte Dorfkern, die Strassen rund um die Kirche. Das «Zentrum» fehlt auch, bei der Eröffnung 1973 das zweite Einkaufszentrum der Schweiz, die neue Mitte von Regensdorf. Mit Zwhatt und den anderen Siedlungen verlagert sich der Schwerpunkt. Es entsteht eine dritte Mitte. Wie geht ein Ort damit um, wenn sich sein Gesicht ständig ändert? Fühlt man sich daheim, wenn das Daheim immer wieder umgebaut wird? Die kurze Antwort: Erstaunlich gut. Und: Ja, man fühlt sich sogar sehr daheim. Die lange Antwort ist etwas komplizierter.  

Marty lebt in Watt, mit all seinen Bauernhöfen der ländlichste Teil der Gemeinde. Wenn er auf dem Weg zur Arbeit die Wehntalerstrasse überquert, fühlt er sich wie ein Grenzgänger zwischen Alt und Neu. Die Strasse wird von zwei auf sechs Spuren erweitert. Bäume werden sie säumen, ein Bach wird ihr entlangfliessen, Ampeln werden den Verkehrsfluss drosseln. Auf den Baufeldern neben der Strasse schwenken Kräne hin und her, Arbeiter rufen Kommandos, Staub liegt in der Luft. Marty vergleicht die Baustelle mit einem Konzertsaal. Das Orchester: Bohrer, Hämmer und Bagger sorgen seit sechzig Jahren für den Soundtrack seiner Heimat. Vielleicht würde ihm etwas fehlen, wäre Regendorf fertig. «Baustellenlärm hat etwas Gutes», sagt er. «Er hört pünktlich auf.»

«Baustellenlärm hat etwas Gutes. Er hört pünktlich auf.»

Stefan Marty

Marty hat sein Leben in Regensdorf verbracht, das heisst in vielen Regensdörfern. Nach jedem Wachstumsschub in einem etwas anderen. Als Kind spielte er Ritter in der Ruine Altburg, focht mit Freunden zwischen Mauern aus dem Mittelalter. Als Primarschüler lernte er Armbrustschiessen wie fast alle Watter, der älteste Brauch der Gemeinde, noch ein mittelalterliches Relikt. Als Jugendlicher ging er nach Regensdorf in die Sekundarschule und wieder nach Hause in die Blockwohnung, seine Familie lebte in einer der ersten neuen Siedlungen von Watt. Seit den siebziger Jahren ist Regensdorf eine Stadt, damals lebten bereits mehr als zehntausend Menschen hier. Heute sind es fast doppelt so viele. Nördlich des Bahnhofs soll innerhalb von 25 Jahren Raum für weitere 6500 Menschen entstehen. Regensdorf bleibt, was es während der letzten hundert Jahre war: eine der am schnellsten wachsenden Gemeinden der Schweiz.  

Während wir durch die Stadt wandern, verknüpft Marty alle paar Schritte Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Wir bewegen uns durch den Teil von Regensdorf, in dem die Zukunft einsetzte: Als der Boom begann, wurde erst der Raum zwischen Dorfkern und Bahnhof bebaut. Weitere Quartiere kamen hinzu, Überbauungen mit hunderten von Wohnungen. Wir kommen zum Bahnhof, dessen Platz bald umgebaut wird. Als wir die enge Treppe der Bahnhofsunterführung hinabsteigen, sagt Marty fast entschuldigend: «Schon nicht gerade schön.» Als wir auf der anderen Seite wieder ans Tageslicht gelangen, hebt er die Hände wie ein Dirigent. «Unser schönes Zwhatt!»

Noch befindet sich hier eine Baustelle, bringen rund hundert Arbeiter sechshundert Millionen Franken Kapital in Form. Wegen des Wachstums muss die Infrastruktur mehr leisten. Mehr Glassammelstellen, mehr Kehrichtabfuhr. Das sind die absehbaren Dinge. Ob in Regensdorf beispielsweise bald auch viel mehr Kinder zur Schule gehen, lässt sich noch nicht sagen. Marty zeigt auf einen Neubau mit dreihundert Wohnungen und fragt: «Wie viele Schulkinder würden Sie da vermuten?» Kunstpause: «Es sind elf.»  

Marty würde es gefallen, wenn die Neubauten zweihundert Meter hoch wären, Regensdorfer Wolkenkratzer. «Dann hätten wir mehr Wiesen, mehr Freiraum.» Am liebsten spricht er über die Furttal-Promenade. Er freut sich darauf, denn hier entsteht etwas Neues für Regensdorf. Die Promenade ist vieles in einem: Flaniermeile, Treffpunkt, Spielplatz, autofreie Zone. Was Marty an Zwhatt schätzt, ist die Nähe von Wohnen und Arbeiten. Auch deswegen wird die Promenade wohl ein lebhafter Ort sein: Man muss nirgendwo hin, alles ist schon da. Noch werden Leitungen verlegt, zum Beispiel ein paar Kilometer mehr zu den schon bestehenden neunzig Kilometern des Regensdorfer Wassernetzes. Heute braucht die Gemeinde fünf Millionen Liter pro Tag, zwei Millionen Kubikmeter pro Jahr, mehr als zwei Katzenseen. 

 

«Mathematik kann man in einem Provisorium lernen, turnen weniger.»

Stefan Marty

Gerade wird auch ein Fernwärmenetz aufgebaut. Die Wärme in Regensdorfer Häusern kommt klimaneutral aus einer Holzschnitzelheizung. Als klimaneutral gilt auch die Abwärme des Datenzentrums in Dielsdorf, das Wasser kommt mit dreissig Grad Vorlaufwärme. Martys Amtszeit dauert bis 2026. Er hofft, dass bis dann das neue Schulhaus fertig geplant ist. Er hat den kleinen weissen Würfel nicht dabei, doch das Wichtigste ist für ihn zurzeit tatsächlich die Turnhalle. «Mathematik kann man in einem Provisorium lernen, turnen weniger.» Er hofft auch, dass der Bahnhof bis 2026 umgebaut ist. Dass das Zusammenspiel aller Akteure harmoniert wie in einem Orchester: Für den Bahnhof ist die SBB zuständig, für den Neubau der Wehntalerstrasse der Kanton, auf den siebzehn Baufeldern Institutionen wie die Pensimo.  

In der Bahnhofsunterführung schiebt Marty eine Plane beiseite und schaut neugierig in eine Velogarage, die gerade fertig gebaut wird. Regensdorf will weg vom Verkehr auf vier Rädern. Marty findet, es sollte für Kinder einfacher sein, zu Fuss zur Schule zu gehen, als von den Eltern gefahren zu werden. Velofahrer werden unter dem Bahnhof Parkplätze finden, ein paar Treppenstufen später auf dem Perron stehen, eine Viertelstunde später in Zürich ankommen. Regensdorf ist eigentlich einfach ein Viertel der Grossstadt.

Am Ende kehren wir kurz in der Vergangenheit ein. Einmal die Woche geht Marty zum Znüni in den Hirschen, der mit seinem Kachelofen immer noch aussieht wie früher. Es ist gemütlich hier, man sitzt in einer Zeitkapsel. Was machen Sie eigentlich in Ihrer Freizeit, Herr Marty? Wo fühlen Sie sich so richtig daheim in Regensdorf? Er ist ein Vereinsmensch, Mitglied beim Turnverein, bei der Männerriege, früher auch bei der Feuerwehr. Er sagt, er gehe regelmässig im Katzensee schwimmen: einmal pro Schaltjahr. «Ich bin nicht so der Bädeler.» Lieber wandert er über die Lägern.

Aber am liebsten ist er da, wo weit und breit nichts steht: im Räbhüüsli von Watt, mitten im Weinberg. Hier schlug er vor knapp zehn Jahren vor, für den Gemeinderat zu kandidieren. Er schaltete eine Anzeige im Furttaler, wurde gewählt und wiedergewählt, seither hat er keine Werbung mehr gemacht. Noch immer führt er das Transportunternehmen, das er von seinem Vater übernommen hat – Gemeindepräsident von Regensdorf, das ist ein 60-Prozent-Job. Nach einem Tag Weinlese geniesst Marty gern ein Glas mit seinen Freunden. Wenn die Sicht klar ist, sieht er über Gubrist, Katzensee und Zürichberg manchmal das Alpenglühen. Bei aller Vorfreude auf das neue Regensdorf mag er die Übersichtlichkeit rund ums Räbhüüsli schon auch sehr. Es ist sein Ruhepol. «Da ist alles völlig unverbaut», sagt er, «da ist es schön.»

Zur Person
Stefan Marty, der Gemeindepräsident von Regensdorf, würde sich nicht als Regensdorfer bezeichnen. Er sieht sich als Watter und hat schon sein ganzes Leben im ländlichen Teil der Gemeinde verbracht, das heisst 58 Jahre. Seit dreissig Jahren führt er das Transportunternehmen, das er von seinem Vater übernommen hat. Seit 2022 ist der Parteilose Gemeindepräsident, vorher war er Werkvorstand im Gemeinderat. In seiner Freizeit wirkt er als Sportchef beim Bob Club Zürich, gelegentlich fährt er auch selber noch Rennen im Eiskanal. Mit ähnlichem Tempo versucht er, Regensdorf in die Zukunft zu führen.

Text: Florian Leu
Bilder: Désirée Good

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